Differentialdiagnostische Listen, Leitsymptom

Festliegen

Definition:
Tier kann oder will nicht aufstehen.
Zur Klärung sollte nach einer kurzen Allgemeinuntersuchung (Herz, Atmung, Temperatur) überlegt werden, ob es offensichtliche Gründe gibt, die einen Auftreibeversuch zunächst ausschließen (z.B.: stark erhöhte Herz- oder Atemfrequenz, Atemnot, Exzitationen, offensichtliche Anzeichen einer Fraktur, starke Blutung, Koma etc.). Es kann auch zunächst abgewartet und die Anwendung eines Antiphlogistikums in Erwägung gezogen werden (Wartezeit!). Nun kommt die schwierige Entscheidung, ob man sofort einen Auftreibeversuch unternehmen will, bei dem sich möglicherweise eine Verschlechterung des Leidens (z.B. bei Myodystrophie)  oder zusätzliche Schäden (z.B. durch Vergrätschen) ergeben können, oder ob man sich auf die sicherere Seite begeben und den nachfolgenden Entscheidungsweg beschreiten will. Das ist eine Ermessensfrage, die jeder nach seiner 'klinischen Erfahrung' für sich beantworten muss.

Auftreibeversuch: Zunächst sollte das Tier auf die andere Seite gewälzt werden, da es durch das lange Liegen auf einer Seite zu lokaler Ischämie gekommen sein kann ('eingeschlafene Beine'). Zur Vermeidung von 'Vergrätschen' sollten die Hinterbeine vergrittet werden. Dann wird versucht  das Tier durch Aufmunterung,  ggf. auch durch einen festen Klaps zum Aufstehen zu bewegen. Die Anwendung eines elektrischen Viehtreibers sollte erst als letzte Möglichkeit versucht werden und maximal 1 - 2 Mal wiederversucht werden. Macht das Tier keine Versuche oder kommt nicht zum Stehen, dann liegt es nach der Definition fest.

Pathophysiologische Zusammenhänge:
Grundsätzlich können 4 Ursachenkomplexe unterschieden werden:
1. metabolische Störung: eingeschränkte Nerven- und Muskelfunktion durch Hypokalzämie. Die Zusammenhänge zwischen Hypokalzämie, schlaffer Muskellähmung und gestörtem Sensorium sind nicht vollständig geklärt. Vermutet wird, dass durch das Fehlen von Kalzium die Durchlässigkeit der Muskelzellmembran für Kalium und Natrium erhöht wird, was eine Verminderung des Membranpotentials zur Folge hätte. Hieraus resultiert nach einer anfänglichen Übererregbarkeit ein Nichtmehransprechen auf Reize. Einer anderen Hypothese zufolge, wird bei fehlendem Kalzium die Ausschüttung von Acetylcholin an der motorischen Endplatte behindert.
Hypophosphatämien, die häufig in Kombination mit Hypokalzämie, aber auch ohne Hypokalzämie gesehen werden, sind vermutlich eher die Folge als die Ursache von Festliegen. Ähnliches gilt für Hypokaliämien.
2. Schädigung von Bewegungsorganen: Muskelrisse, Frakturen, Luxationen, Nervenschädigungen, die den Bewegungsablauf mechanisch, funktionell oder wegen der damit verbundenen Schmerzen beeinträchtigen
3. psychogene Immobilität: Unsicherheit, Angst oder Widersetzlichkeit. Das Tier könnte, will aber nicht aufstehen
4. schweres inneres Leiden: das Tier ist zu schwach um aufzustehen, oder es bereitet ihm zu starke Schmerzen

Klinisches Bild:
Tier liegt in stabiler Brustlage oder flacher Seitenlage, mit angehobenem, auf den Boden gelegten oder an den Körper gelegten Kopf ('autauskultatorisch').

Entscheidungsweg zur Ursachenfindung:

Sensorium (=Bewusstseinslage) gestört?
Als gestörtes Sensorium wird bezeichnet, wenn eine abnorme 'Verarbeitung' von optischen, akustischen, olfaktorischen etc. Reizen aus der Umgebung auftritt. Hierzu gehören:
Exzitation (erhöhte sensomotorische Erregbarkeit):   krampfartige Bewegungen, Unruhe, Angst, Bösartigkeit, Angriffslust, vermehrte Abwehrbereitschaft, Brüllen, Toben,
                    Zittern von Augen und / oder Ohren
Depression (abgeschwächte sensomotorische Erregbarkeit):    Bewegungsunlust, vermindertes Sauberlecken der Nasenöffnungen, fehlendes Ohr- und / oder Schwanzspiel,
                       Teilnahmslosigkeit, Schläfrigkeit, Benommenheit, Bewusstlosigkeit, (niedergeschlagenes Stehen, 'nach innen gerichteter Blick',  aufgestützter Kopf)

 

Sensorium ist ungestört
Allgemeinbefinden gestört ?
Das Allgemeinbefinden wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Verhalten, Ernährungszustand, Pflegezustand, Habitus, Atemfrequenz, Herzfrequenz, Körpertemperatur

Allgemeinbefinden ist ungestört
Überprüfung auf abnorme Beweglichkeit, Krepitation und Sensibilität
Der für die Überprüfung notwendige Untersuchungsgang muss zusammen mit einer zweiten Person durchgeführt werden. Jede Gliedmaße wird zunächst palpatorisch auf Schwellungen und Verhärtungen untersucht. Dann werden durch die zweite Person starke Auslenkungen einzelner Körperteile vorgenommen und gleichzeitig auf vermehrte Beweglichkeit und Krepitation geachtet. Die Hautsensibilität kann durch kleine Nadelstiche überprüft werden (auf Hautmuskelzuckungen achten). 
abnorme passive Beweglichkeit mit Krepitation
Lokalisation ?
Fraktur
Zerrung der Kreuz-Darmbeinverbindung
(Hüft)Gelenksluxation
abnorme passive Beweglichkeit ohne Krepitation, mit lokalisierter
    Muskelschwellung
Lokalisation?
kugelige Verhärtung in einem Muskel
        -> Muskelruptur (z.B.: M. Gastrocnemius, Adduktorenriss, M. fibularis tertius)
Rückenmuskulatur verhärtet, junges Tier, (Myoglobinurie)
        ->
Myodystrophie
abnorme aktive und passive Beweglichkeit mit lokalisiertem Ausfall der
    Hautsensibilität
Evolution der Symptome?
akut aufgetreten
Ausfall der Hautsensibilität?
segmental
        -> Querschnittslähmung
lokal
        -> Nervenlähmung
allmählich aufgetreten -> raumfordernder Prozess (Abszess, Parasiten, Tumor)
abnorme aktive und passive Beweglichkeit von Zungenmuskulatur und
    Schwanz, aufsteigende Lähmung von hinten -> Botulismus
keine deutliche abnorme aktive oder passive Beweglichkeit,
    keine Krepitation, Hautsensibilität erhalten
         -> Verdacht auf Ischämie bedingte Muskelnekrose
             ('Festliegen nach Festliegen aus anderem Grund')
Widersetzlichkeit, Ängstlichkeit
         -> psychogene Immobilität
Allgemeinbefinden ist gestört
ACHTUNG! Es kann sich auch um ein fortgeschrittenes Stadium einer Erkrankung handeln, bei der das Allgemeinbefinden zunächst ungestört war (z.B.: Botulismus). 
Tier stöhnt bei tiefer abdominaler Palpation, (Kolik)
       -> schweres intraabdominales Leiden (perforierendes Labmagengeschwür,
           Peritonitis, Labmagenruptur, Darmverschlingung,...)
Euter stark geschwollen, Eutersekret stark verändert
       -> Mastitis (s. Gynäkologie)
Uterusinhalt jauchig verändert
       -> Endometritis puerperalis
Sensorium ist gestört
schlaffe Lähmung, komatöser Zustand, Pupillen weit, Zungentonus erhalten
    (ionisiertes Ca  < 0,6 mmol/l)

           -> Hypokalzämie
Krämpfe (tonisch - klonisch), Opisthothonus
           -> Hypomagnäsiemie
Apathie, Ikterus, Fieber, peripartaler Zeitraum, Mastkondition
           -> Hepatopathie / Lipomobilisationssyndrom
Nervosität, starke Ketonurie
           -> nervöse Ketose


 

Letzte Änderung: 22.01.2006          Autor: M.Metzner


home-page      Inhaltsverzeichnis
© Copyright 2004, Klinik für Wiederkäuer, Ludwig-Maximilians-Universität München