2.6. Spezielle Untersuchung: Harnappapparat




Ziel: Feststellung von Erkrankungen des Harnapparates sowie (durch Untersuchung von Harnproben) Gewinnung von Hinweisen auf systemische Erkrankungen

Aufgaben der Nieren: Elimination (Filtration, Sekretion), Homöostase (Volumenregulation, Säuren- Basen-Haushalt), endokrine Leistungen (Erythropoietin, Vitamin-D3-Hormon)

Gewinnung einer Harnprobe:
Für die meisten klinischen Zwecke reicht die Untersuchung von spontan oder nach Provokation abgesetztem Harn aus.
Harnabsatz kann einigermaßen zuverlässig provoziert werden, wenn nicht kurz zuvor Harn abgesetzt worden ist.
(Technischer Tip: Bei Untersuchung einer Kuh im Anbindestall empfiehlt es sich, ein Gefäß zum Auffangen des Harns bereit zu halten, da Kühe nach dem Aufstehen und bei Störungen nicht selten in Serie Harn absetzen.)
 

Beim männlichen Rind wird hierzu das Ende des Präputiums bzw. die Präputialhaare sanft (!) zwischen Daumen und den übrigen Fingern gerieben. Bei stärkerer Manipulation tritt fast stets Mikrohämaturie (mit bloßem Auge keine Rotfärbung des Harns erkennbar) auf. (Technischer Tip: Die untersuchende Person sollte darauf gefasst sein, sich mit dem den Hinterbeinen zugewandten Arm gegen Tritte zu schützen.) Gleichzeitig achtet man auf eventuell vorhandenen Harngrieß an den Präputialhaaren! Die Präputialhaare sind in der Regel feucht. Ist dieser Bereich trocken und kein Harnabsatz provozierbar, kann eine Harnröhrenobstruktion die Ursache hierfür sein.
  Video, 13 Sek., 2 MB   Im Video wird die Miktionsprovokation bei einem männlichen Kalb gezeigt.

Bei weiblichen Rindern gelingt die Provokation des Harnabsatzes (nicht ganz so regelmäßig) durch sanftes bis kräftiges Streichen in dorsoventraler Richtung ventral der Vulva. Das Tier darf dabei nicht von anderen Personen berührt/ fixiert werden.
   Video, 13 Sek, 2,1 MB   Im Video ist die Miktionsprovokation durch 'Streichen' dargestellt.

Aufzufangen ist nach Möglichkeit Mittelstrahlharn. Zur Abklärung einer bereits bekannten Makrohämaturie ist es sinnvoll, je eine Portion vom Anfang, von der Mitte und vom Ende in getrennten Gefäßen aufzufangen (Beurteilung siehe # Rotverfärbung des Harns).
Gelingt es auf die beschriebene Weise nicht, Harnabsatz zu provozieren, ist beim erwachsenen weiblichen Rind Blasenkatheterismus möglich. Hierzu eignen sich Metallkatheter (z.B. Uterukatheter " Breslauer Modell", zusammen mit einem Schnabelspekulum) oder auch sterile Gummischläuche. Bei Kunststoffbesamungspipetten besteht die Gefahr des Abbrechens, wenn das Rind unerwartet zur Seite ausweicht. Beschrieben wird der Katheterismus mit dem Uteruskatheter "Breslauer Modell" (Beschreibung für Rechtshänder).
Die Vulva wird trocken gereinigt. Eine Hilfsperson steht links vom Tier und hält den Schwanz des Rindes nach rechts (für einen rechtshändigen Untersucher) über den Rücken des Tieres und fixiert das Rind gleichzeitig mit dem Kniefaltengriff oder hält das Tier in der Nase. Der Untersucher hält das Spreizspekulum in der linken und den Katheter in der rechten Hand, jedoch vom Tier weg geneigt. Mit den Fingern der rechten Hand spreizt er die Schamlippen der Kuh und führt dann das Spreizspekulum mit der linken Hand senkrecht stehend ( d. h. Griff nach links) und geschlossen ein. Nach Öffnen des Spekulums ist der Scheidenboden zu sehen. Je nach Lichtverhältnissen (und Übung des Untersuchers) ist zusätzliche Beleuchtung (dritte Person oder Stirnlampe) notwendig. Der Eingang zum Divertikulum suburethrale ist als schlitzförmige Öffnung ventromedial erkennbar. Die Katheterspitze wird vorsichtig in das Diverticulum eingeführt, in dessen Hinterwand sich die Urethramündung befindet. Dann wird die hintere Wand vorsichtig mit der Katheterspitze nach oben aufgespannt, bis der untere Rand der Urethraöffnung als feines Häutchen nach unten rutscht und so den Eingang in die Urethra freigibt. Nun wird der Katheter nach vorn und unten geschoben. Meist ertönt ein Gluckern, weil Luft angesaugt wird. Jetzt kann mit einer Spritze oder einer Plastikflasche mit angesetztem Gummistück Harn angesaugt werden.

  Video, 58 Sek., 7,7 MB   Im ersten Teil des Videos werden die Vorbereitung und die Harnentnahme mittels Katheter gezeigt (der Harn läuft spontan ab). Im zweiten Teil werden die Details am Ausgang der Harnröhre (mittels Endoskopie aufgezeichnet) gezeigt: der Katheter gelang zunächst in das Divertikulum suburethrale, wird dann angehoben und dringt in die Urethra ein.
 

Beurteilung des Harnabsatzes:

Der Harnabsatz beim weiblichen Rind erfolgt oft direkt nach dem Aufstehen mit aufgekrümmtem Rücken und abgehaltenem Schwanz. Besonders starke Aufgekrümmung des Rückens, Trippeln und kolikartiges Schlagen mit den Hinterbeinen weisen auf einen schmerzhaften Prozess (z. B. Entzündung der Harnblase) hin. Auch das häufige Absetzen von geringen Volumina Harn ist dabei zu beobachten.

Bei der After-Blasen-Schwanz-Lähmung kann aktiv kein Harn abgesetzt werden. So läuft am liegenden oder sich bewegenden Tier der Urin tropfenweise oder schwallartig aus. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Urovagina der Kuh, jedoch kann hierbei der Harn aktiv abgesetzt werden, sammelt sich aber in der nach kranioventral gesenkten Scheide.

Für tollwutkranke Rinder ist u. a. das Drängen auf Harn (und Kot) charakteristisch. Das gleiche Symptom ist auch nach Schwergeburten oder anderen schmerzhaften Prozessen im Beckenbereich zu beobachten.

Im Gegensatz zum weiblichen Rind setzt das männliche Tier häufig ohne Änderung der Körperhaltung Harn ab. Der Strahl soll kräftig und kontinuierlich sein. Unphysiologisch wäre dabei starkes Durchbiegen des Rückens, sägebockartige Stellung, extremes Schwanzabhalten, erfolgloses "Pumpen" (s.u.). Dem Harnabsatz geht das sogenannte "Pumpen" voraus : rhythmische Kontraktionen der Harnröhrenmuskulatur im Perinealbereich. Läuft der Harn nur im dünnen Strahl oder tropfenweise ab, so liegt möglicherweise ein partieller Harnröhrenverschluss vor.

Untersuchung des Harns:

Rektale Palpation:

Die rechte Niere liegt retroperitoneal direkt unter der Wirbelsäule und ist kaum verschieblich. Bei der rektalen Untersuchung ist sie selten zu fühlen, höchstens ihr kaudaler Pol (bei Vergrößerung des Organs) Die linke Niere liegt kaudal davon (ca. 3. bis 5. Lendenwirbel ) und hängt an einem handbreiten Gekröse, ist also geringgradig (in transversaler Richtung) verschieblich. Sie wird je nach Füllungsgrad des Pansens nach rechts gedrängt. Ihre Form ist nach kaudal verdickt und an der dem Pansen zugewandten Seite abgeflacht.
Man achtet bei der Untersuchung auf deren Verschieblichkeit (physiologisch: "frei verschieblich") bzw. Verklebungen/ Verwachsungen mit der Umgebung. Die Konsistenz ist gleichmäßig fest-elastisch, "sulzige" Beschaffenheit kommt bei chronischer Pyelonephritis oder längerdauerndem Harnstau vor, "Fluktuation" ist bei der Zystenniere zu fühlen. Die einzelnen Renkuli sollen gleich groß und gut voneinander abgegrenzt sein. Die Oberfläche der Renkuli soll glatt sein. Bei einer eitrigen Nephritis kann sie körnig bis kleinknotig verändert sein.
Die meisten Nephropathien (Amyloidnephrose, (Pyelo-) Nephritis, Nierenleukose, Hydronephrose) gehen mit Vergrößerung des Organs einher. Verkleinerung (Schrumpfniere) kommt beim Rind äußerst selten vor.
Die Nieren sind von einer mehr oder weniger ausgeprägten Fettkapsel umgeben, welche die Beurteilung der Niere erschweren kann. Treten Verhärtungen in diesem Bereich auf, kann das Fettgewebsnekrose hindeuten.
Natürlich achtet man bei der Palpation auch auf Schmerzhaftigkeit (Stöhnen, Ausweichen, Abwehrbewegungen).
Bei mageren Kälbern ist die linke Niere durch die Bauchwand zu fühlen; es ist jedoch nur eine begrenzte Beurteilung möglich (Größe, Konsistenz).
Die Harnleiter sind beim erwachsenen Rind stohhalmstark. Eventuell ist der Anfangsteil des linken Harnleiters palpierbar. Bei Erkrankungen (Pyelonephritis, Harnröhrenobstruktion) können sie bleistift- bis fingerstark sein, in seltenen Fällen sogar unterarmstark. Die Konsistenz wird prall fluktuierend, derb und die Oberfläche fühlt sich samtartig an.
Je nach Füllungszustand reicht die Harnblase mehr oder weniger weit in die Bauchhöhle.
Die leere Harnblase besitzt eine "fleischige" Konsistenz, bei zunehmender Füllung wird sie fluktuierend. Ähnlich wie bei der Niere achtet man auf Verklebungen, Verwachsungen, Druckempfindlichkeit, Oberflächenbeschaffenheit ("Schneeballknirschen" bei Fibrinauflagerungen), auf die Dicke der Harnblasenwand (Zunahme bei Zystitis) und abnormen Inhalt (Harnsteine, abgebrochene Besamungspipette). Die Größe kann physiologischerweise beträchtlich variieren. Fußballgröße oder mehr kann bei Harnröhrenobstruktion oder Lähmung der Blase erreicht werden. Eine Ruptur der Harnblase (z. B. infolge einer Harnröhrenobstruktion) kann anhand des Fehlens von Harnabsatz (erfolglose Provokation), Vorliegen eines Uroperitoneums (birnenförmiges Abdomen mit Undulation), Anstieg der Konzentration harnpflichtiger Sustanzen im Blut ( = postrenale Urämie), Abfluss von Harn bei Punktion der Bauchhöhle und ggf. sonografisch diagnostiziert werden.

  Video, 12 Sek., 884 kB  Die Sequenz zeigt ein Rind mit Uroperitoneum. Kurze Stöße in die linke Hungergrube erzeugen eine schwappende Bewegung in der rechten Hungergrube (Undulation).

Ultrasonographie:
Eignet sich vor allem zur Darstellung der rechten Niere, die der rektalen Untersuchung nicht zugänglich ist.

  Video, 27 Sek., 5,2 MB   Das Video zeigt die Ultraschallaufnahme einer gesunden rechten Niere (aufgenommen im Bereich der rechten Hungergrube). Der größte Durchmesser (Nierendicke) wird ausgemessen.

  Video, 29 Sek., 5,2 MB   Das Video zeigt die Ultraschallaufnahme der rechten Niere einer an Pyelonephritis erkrankten Kuh. Sinus renalis und Markpyramiden sind dilatiert (anechogene Bezirke), an verschiedenen Stellen des Nierenmarks sind entzündete (echogene) Bezirke erkennbar, die Deletionsschatten erzeugen. Der größte Durchmesser (Nierendicke) beträgt fast 13 cm.

Für weitergehende Informationen s.a. Kapitel "Harnapparat" in Braun, U. (Hrsg.), Atlas und Lehrbuch der Ultraschalldiagnostik beim Rind, 1997, Verlag Paul Parey.

Funktionsproben:

(siehe auch "Nierenfunktionsproben" im Labor-Skript)

Konzentrationsfähigkeit:
Volhardscher Konzentrationsversuch (Kontrolle der Harndichte nach 12- oder 24- stündigem Dürsten) ist nur in Zweifelsfällen sinnvoll. Er ist selten indiziert, weil andere Möglichkeiten zur Beurteilung und Diagnostik bestehen.

Rückresorption:
Im Glomerulumfiltrat sind Substanzen enthalten, deren völliger Verlust nach kurzer Zeit nicht mehr mit dem Überleben des betroffenen Individuums vereinbar wäre (Natrium, und damit auch Wasser, aber auch Glukose). Die Rückresorption im Tubulus ist daher eine lebenswichtige Leistung der Nieren.
Diese Rückresorption ist ein aktiver Prozess, für den gilt:

Von klinischer Bedeutung sind hier vor allem zwei Substanzen: Natrium und Glukose
 

Im Glossar sind zusätzlich folgende Themen abgehandelt:

# FENa

# Glukosurie

# Rothera-Test

# Rotverfärbung des Harns
 



Letzte Änderung: 11. 03 .2014


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