Zur Definition der wichtigsten Fachausdrücke siehe Ende des Kapitels.
I) Haltung, Verhalten, Bewegungsfähigkeit:
Haltung, Verhalten (siehe Allgemeinuntersuchung) und Bewegungsfähigkeit werden durch komplexe nervale Vorgänge geregelt. Sowohl Rückenmark als auch Hirnstamm, Kleinhirn und Großhirn sind hierfür erforderlich.
Die Untersuchung der Haltung und des Verhaltens erfolgt durch Adspektion. Die Bewegungsfähigkeit wird durch Beobachtung des Ganges der Tiere oder gegebenenfalls durch einen Aufhebeversuch und durch Palpation des Muskeltonus (Palpation der Rückenmuskulatur, Öffnen des Mauls, Prüfen der Schwanzspannung, Prüfen der Resistenz gegen Manipulation) untersucht.
1) Haltung (Verlust der Stehfähigkeit, breitbeiniges Stehen, Opisthotonus)
2) Verhalten
Großhirnsyndrom:
Video, 5 Sek., 927 kB
Kalb mit Opisthotonus
Video, 6 Sek., 916 kB
Nystagmus bei einer Kuh
Video, 7 Sek, 308 kB
Kuh mit Schlotterkiefer (bei Kuh mit Listeriose)
Adspektion des Kopfes von vorne:besondere Beachtung von Asymmetrien (Achtung, diese können zum Teil nur durch sehr genauen Vergleich festgestellt werden). Im Weiteren werden bei Reflexen afferente Nerven und efferente Nerven wie folgt angegeben: N. afferens => N. efferens. Ohrabwehr: N. vagus/trigeminus => N. intermediofacialis/accessorius
Einführen z.B. eines Strohhalmes in den äußeren Gehörgang => Ohrschütteln/Abwenden des KopfesBlinzelreflex: N. opticus => N. intermediofacialis/accessorius
Plötzliches, mehrfaches, ruckartiges Fingerspreizen vor dem Auge (nicht auf das Auge zu, sondern parallel zur Kopfseite, denn es darf kein Luftzug entstehen) => Schließen des Auges/Abwenden des Kopfes
Dieser Reflex muss wahrscheinlich erlernt werden, deshalb funktioniert er bei vielen jungen Kälbern auch physiologischerweise nicht sofort.Lid-, Cornealreflex: N. trigeminus => N. intermediofacialis
Vorsichtiges Berühren des medialen Augenwinkels bzw. der Cornea => Schließen des AugesPupillarreflex: N. opticus => N. oculomotorius (parasympathische Innervation)/Thorakalsegmente des Rückenmarkes (sympathische Innervation)
Lichteinfall auf die Pupille => Verengung der Pupille des beleuchteten (direkter) und des anderen (konsensueller Pupillarreflex) AugesPrüfen der Kieferspannung Gaumenreflex: N. trigeminus => N. trigeminus/N. intermediofacialis
Einführen der Hand in die Maulspalte, Drücken gegen den harten Gaumen => Öffnen des Mauls
Kieferspannung erhöht: Maul schwer oder nicht zu öffnen (Trismus)
Kieferspannung reduziert: beim Seitwärtsschütteln des Oberkiefers bewegt sich der Unterkiefer unabhängig vom Oberkiefer (Schlotterkiefer)Prüfen der Zungenspannung (Zungenreflex): N. trigeminus => N. hypoglossus
Erfassen der Zunge => Zunge wird zurückgezogen
Zungenspannung reduziert: Zunge lässt sich aus dem Maul herausziehen, wird beim Loslassen langsam oder gar nicht zurückgezogen. Dieser Befund kann allerdings auch bei Enzephalitis zu erheben sein und beruht dann vermutlich auf Störung des Bewusstseins.Kaureflex: N. trigeminus => N. trigeminus
Füttern mit Rauhfutter => KauenSaugreflex (Kälber): N. trigeminus => N. hypoglossus
Finger in Maul => Saugen (mit "Rillenbildung" der Zunge)Schluckreflex: N. trigeminus => N. glossopharyngeus/N. vagus
Futter hinter dem Zungenrückenwulst => Schlucken. Bei Ausfall dieses Reflexes kommt es zum "Wickelkauen", d. h. mehr oder weniger zerkautes Futter bleibt als kompakter Ballen hinter dem Zungenrückenwulst liegen.
Symptome | Innervation | Gehirnnerv |
Verlust des Sehvermögens (rennt gegen im
Weg stehende Hindernisse)
Ausfall des Blinzelreflexes |
Retina | N. opticus (II) |
Ptosis des oberen Augenlides
Schielen nach seitlich abwärts
Mydriasis Ausfall des Pupillarreflexes |
M. levator palpebrae superioris
Augenmuskeln
M. sphincter pupillae |
N. oculomotorius (III) |
Drehschielen (medialer Bulbuspol nach dorsal rotiert) | Augenmuskeln | N. trochlearis (IV) |
Sensibilitätsverlust im größten
Teil des Kopfbereiches, Ausfall Lid-, Cornealreflex
Ausfall des Saug-, Gaumendruck- und Kaureflexes Zungenspannung reduziert Schlotterkiefer |
Sensible Innervation der Haut, der Iris und
der Cornea
Sensible Innervation der Schleimhäute (auch Zunge)
motorische Innervation der Kaumuskeln |
N. trigeminus (V) |
Einwärtsschielen | Augenmuskel | N. abducens (VI) |
Hängen des Ohres
Unvermögen, Auge zu schließen Tonus von Ober-, Unterlippe reduziert Ausfall von Ohr-, Blinzel-, Lid-, Cornealreflex Speichelverlust Tränensekretion sinkt |
Motorische Innervation der mimischen Muskulatur
(außer M. levator palpebrae superioris)
Parasympathische Innervation aller Kopfdrüsen außer der Parotis |
N. intermediofacialis (VII) |
Gleichgewichtsstörungen |
Gehör
Gleichgewichtssinn |
N. vestibulocochlearis (VIII) |
Schluckstörungen | Schlundkopferweiterer | N. glossopharyngeus (IX) |
Schluckstörungen
Sensibilitätsverlust an der Innenfläche der Ohrmuschel Störungen Pansenmotorik, Bradykardie etc. |
Schlundkopfschnürer
Sensible Innervation der Innenfläche der Ohrmuschel Parasympathikus |
N. vagus (X) |
Zungenlähmung
Zungenspannung reduziert |
Motorische Innervation der Binnenmuskeln der Zunge | N. hypoglossus (XII) |
Ein Ausfall des N. olfactorius (I) mit Verlust des Riechvermögens und des N. accessorius (XI), der Halsmuskeln innerviert, ist kaum diagnostizierbar und auch klinisch ohne Bedeutung.
III) Untersuchung der Rückenmarksfunktionen:
1) Kopfnerven (s.o.)
2) Gliedmaßen:
Ischiadicuslähmung: Knie- und Sprunggelenk gestreckt, Zehe gebeugt, Bein hängt schlaff herab, in der Bewegung schleift dorsale Klauenwand auf dem Boden
Fibularislähmung: Ausfall der Beuger des Sprunggelenks und Strecker der Zehe, Fersenhöcker hängt tief, Fußen auf dem Fesselkopf, beim Vorführen bleibt das Bein gestreckt
Tibialislähmung: Ausfall der Sprunggelenksstrecker und Zehenbeuger, Fersenhöcker erscheint herabhängend, Fessel überkötet, Vorführen des Beines mit gebeugtem Tarsus (Differentialdiagnose: partielle Gastrocnemiusruptur)
Obturatoriuslähmung: Ausfall der Adduktoren, Bein wird abduziert gehalten, Gliedmaße wird mit steifer, halbkreisförmiger Auswärtsbewegung nach vorne geführt
1 N. trigeminus | 8. N. medianus / ulnaris |
2 N. vagus | 9. dorsaläste der Lendennerven |
3. N. intercostobrachialis | 10. Dorsaläste der Kreuznerven |
4. N. axillaris | 11. N. glutealis caudalis |
5. N radialis | 12. N. saphenus |
6. N. ulnaris | 13. N. tibialis |
7. N. muscolucutaneus | 14. N. fibularis |
Die Darstellung ist schematisch, am lebenden Tier überlappen sich die sensiblen Hautareale gegenseitig.
V) Untersuchung des Liquor cerebrospinalis:
Indikation: Feststellung und Differenzierung einer Infektion des ZNS oder Beteiligung des ZNS an einer systemischen Infektion (z.B. Sepsis).
Technik der Liquorentnahme:
Die Entnahme von Liquor ist durch subokziputale oder lumbosakrale Punktion
möglich. Zur subokziputalen Punktion ist der Patient stark zu sedieren
oder in Kurznarkose zu legen und, je nach Größe, in Brustlage
oder flacher Seitenlage zu lagern. In beiden Fällen ist das Genick
maximal abzubeugen. Die Einstichstelle liegt in der Medianen in Höhe
des kranialen Randes der Atlasflügel. Nach Vorbereitung der Umgebung
wie zu einer Operation empfiehlt es sich, die Haut mit einer Einmalkanüle
vorzustanzen. Die Entnahme erfolgt am besten mit einer speziellen Punktionskanüle
mit eingeschliffenem Mandrin, für ein erwachsenes Rind ca. 120 - 160
x 1,5 bis 2,0 mm, für ein Kalb oder einen kleinen Wiederkäuer
entsprechend kleiner. Der Einstich erfolgt in Richtung auf das Flotzmaul.
Die Dura mater ist als Widerstand zu spüren, und beim Durchstechen
zucken die Tiere, sofern sie nicht in Narkose sind. Unmittelbar hinter
der Dura mater ist der Liquorraum erreicht. Die Punktion kann mithilfe von Sonographie gezielter gestaötet werden (Braun et al. 2015). Nach Entfernen des Mandrins
tropft der Liquor normalerweise ab. Abfluss im Strahl deutet auf Erhöhung des
Liquordrucks hin. Die Erhöhung kann pathologisch sein oder auf Erhöhung des Venendrucks (durch Kompression des Halses oder durch Pressen) beruhen.
Die Entnahme von Liquor durch lumbosakrale Punktion ist am stehenden Tier am einfachsten, weil dann die Mediane und die Senkrechte am besten zu finden sind. Die Einstichstelle liegt in der Delle vor dem ersten Dornfortsatz des Kreuzbeins. Diese Stelle liegt etwa auf der Höhe des Hinterrandes der Hüfthöcker. Auch hier empfiehlt es sich, die Haut vorzustanzen. Der Einstich erfolgt genau senkrecht. Die Dura mater ist auch hier zu spüren. Der Liquor tropft normalerweise nicht ab, lässt sich aber bei korrektem Sitz der Kanülenspitze mühelos ansaugen.
Als Entnahmevolumen reichen ca. 20 ml (bei einem erwachsenen Rind) für alle in Frage kommenden Untersuchungen. Zur zytologischen Untersuchung muss der Liquor rasch (am besten innerhalb von 30 min) verarbeitet werden (Sedimentationskammer oder Zytozentrifuge). Ein Teil sollte in ein steriles Röhrchen zur mikrobiologischen Untersuchung verbracht werden, falls das Tier nicht schon antibakteriell vorbehandelt wurde ein anderer Teil in ein Röhrchen mit Antikoagulans.
Normaler Liquor cerebrospinalis (eng.: CSF = cerebrospinal fluid) sieht aus wie Wasser, farblos und völlig transparent. Bei starker eitriger Meningoenzephalitis ist der Liquor oft schon makroskopisch als verändert erkennbar: Trübung (bei Zellkonzentrationen ab ca. 1000/µL erkennbar), Schlieren, im Extremfall baldige Gerinnung (bei Konzentrationen von kernhaltigen Zellen über 10.000/ µL,falls das Gefäß kein Antikoagulans enthält). Bei makroskopisch nicht erkennbar verändertem Liquor sind in der Praxis noch semiquantitaive Eiweiß-Tests (z.B. # Pandy-Test; reagiert mit Globulinen; die untere Nachweisgrenze liegt mit 0,5 g/L im eindeutig pathologischen Bereich) sowie der Schalm-Test (auf Erhöhung der Konzentration kernhaltiger Zellen; die Nachweisgrenze liegt mit ca. 900 Zellen/µL sehr deutlich im pathologischen Bereich) durchführbar. Die übrigen Untersuchungen sind an ein Labor gebunden.
Liquor mit offensichtlicher (meist punktionsbedingter) Blutbeimengung ist in der Regel für eine Untersuchung nicht geeignet. Eine Differenzierung zwischen punktionsbedingter Einblutung und Subarachnoidal-Blutung ist (bei subokziputaler Punktion) durch die "3-Gläser-Methode" möglich: abtropfender Liquor wird nacheinander in drei Röhrchen aufgefangen. Wenn die erkennbare Rotverfärbung des Liquors vom ersten zum dritten Röhrchen abnimmt, stammt die Blutung von der Punktion.
Zur weiteren Untersuchung von Liquor s. Laborskriptum.
VI) Definition einiger Fachausdrücke:
Anisokorie | Ungleiche Pupillenweiten | |
Apathie | Teilnahmslosigkeit | |
Ataxie | Störung der Bewegungsabläufe: die Einzelbewegungen gehen nicht fließend ineinander über | |
Bruxismus | Krampfartiges, mit Zähneknirschen verbundenes Leerkauen | |
Depression | Herabsetzung der sensomotorischen Erregbarkeit | |
Dysmetrie | Nicht- oder Falschausführen beabsichtigter Bewegungen | |
Exophthalmus | Hervortreten des Augapfels aus der Orbita | |
Exzitation | Erhöhung der sensomotorischen Erregbarkeit | |
(Myo-)Klonus/klonisch | Anfallsweise Muskelkontraktionen | |
Koma | Völlige Bewusstlosigkeit, selbst schmerzhafte Reize werden nicht beantwortet | |
Konvulsion | Sich in Serien wiederholendes Krampfgeschehen | |
Miosis | Engstellung der Pupille | |
Motilität | Passive, erzwungene Beweglichkeit | |
Motorik | Aktive, spontane Bewegung | |
Muskeltonus | Spannungszustand der Muskulatur | |
Mydriasis | Weitstellung der Pupille | |
Nystagmus | "Augenzittern": langsame Bewegung in die eine, schnellere nachfolgende in die entgegengesetzte Richtung | |
Opisthotonus | Halsstreckung (tonischer Krampf der Strecker der Nackenmuskulatur). In manchen Fällen, z.B. bei Meningitis, ist jedoch nicht klar, ob diese Haltung nicht zur Reduktion von Schmerzen eingenommen wird. | |
Paralyse | Vollständige Lähmung | |
Parese | Unvollständige Lähmung | |
Ptosis | Schlaffes Herabhängen | |
Sensorium | Bewusstseinslage, "Verarbeitung" von Reizen | |
Somnolenz | Schläfrigkeit, Schlummersucht, durch äußere Reize aufhebbar | |
Spasmus/spastisch | Straffe Lähmung, Krampf | |
Strabismus | Schielen | |
tonisch | anhaltend übermäßig angespannt | |
Tremor | Muskelzittern, um eine mittlere Lage oszillierend | |
Trismus | Dauerkrampf der Kaumuskulatur | |
Zentrale Blindheit | Bedingt durch Läsion im Bereich der Großhirnrinde: Pupillarreflex ist auslösbar, Blinzelreflex nicht |
Literatur:
Braun U, J Attiger, C Brammertz (2015) Ultrasonographic examination of the spinal cord and collection of cerebrospinal fluid from the atlanto-occipital space in cattle. BMC Veterinary Research 11:227