Hirnrindennekrose
CCN = Cerebrocorticalnekrose, PEM = Polioencephalomalacie
 
W. Klee  
 
 
Das Wichtigste in Kürze

Hirnödem, häufig auf der Basis von Viamin B1-Mangel. Betroffen sind meist jüngere Rinder in der Phase der Umstellung auf Raufutter. Zur Pathogenese existieren verschiedene Hypothesen. Thiamin ist Koenzym verschiedener Enzyme. Bei Mangel entsteht aufgrund des biochemischen Defekts ein zelluläres Hirnödem, welches zu Ausfallserscheinungen und Drucknekrosen führt. Zentralnervöse Symtomatik: u.a. zentrale Blindheit, Opisthotonus ("Sternguckerkrankheit"), dorsomedialer Strabismus, Nystagmus, Speicheln, Inkoordination und Streckkrämpfe der Vorderbeine. Diagnose anhand der klinischen Erscheinungen und/oder aufgrund des prompten Ansprechens auf die "diagnostische" Therapie mit Vit B1. Therapie: Thiamin über mehrere Tage, Glukokortikoide und Diuretika. Bei (noch) reversiblen Zuständen Erfolge innerhalb von Stunden. Prophylaxe: behutsame Umstellung auf kraftfutterreiche Mastrationen, Gabe von Bierhefe, ggf. Vit B1-Supplementierung.


 
Prüfungsstoff
 
 
Ätiologie Diagnostik
Epidemiologie Differentialdiagnosen
Pathogenese Therapie
Klinische Erscheinungen Prophylaxe

Ätiologie:
Hirnödem auf der Basis mehrerer möglicher Prozesse, häufig aufgrund von Vitamin B1-Mangel.
 

Epidemiologie:
Nach Futterumstellungen (in Richtung Mastration), betroffen sind meist jüngere Rinder (bis etwa 18 Monate), Ausbrüche können vorkommen, nicht alle Tiere mit biochemisch nachweisbarem B1-Mangel (s.u.) zeigen klinische Symptome. Letalität 25 - 50 %. Ähnliche Erkrankungen bei Pferden, Schweinen und Fleischfressern durch Thiaminasen aus Schachtelhalm oder Farnen bzw. Fischen.
 

Pathogenese:
Nicht eindeutig geklärt. Experimentell kann eine gleichartige Krankheit durch Verabreichung von Thiaminantagonisten (Antimetaboliten oder biochemisch inaktive Analoge) ausgelöst werden. Thiamin ist als Thiamindiphosphat (Thiaminpyrophosphat, TPP) Koenzym verschiedener Enzyme (u.a. Pyruvat-Decarboxylase, Pyruvat-Dehydrogenase, Phosphoketolase, Transketolase), welche u.a im Glukosestoffwechsel (insbesondere im Gehirn) wichtige Rollen spielen. Von praktischer Bedeutung ist die Transketolase in den Erythrozyten, weil ihre Aktivität, die den limitierenden Faktor im Pentose-Phosphat-Zyklus darstellt, relatv leicht gemessen werden kann.
Mögliche Mechanismen der Entstehung des Mangels: Steigerung des Bedarfs bei kraftfutterreicher Ration, Störung der Produktion im Pansen, Steigerung der Zerstörung durch Thiaminasen im Pansen (z.B. von Clostridium thiaminolyticus), Störung der Resorption, kompetitive Hemmung (z.B. durch Amprolium) Mangel an Apoenzym, Störung der Verbindung zwischen Coenzym und Apoenzym, Steigerung des Verbrauchs, und/oder der Ausscheidung.
Sulfatreiche Rationen erhöhen das Risiko für CCN (möglicherweise durch Erhöhung des Thiaminbedarfs im Gehirn), ebenso Cobalt-Mangel und Melasse-Harnstoff-Zusätze (im letzteren Fall ist die Bedeutung von Thiamin nicht bekannt).
Im Gefolge des biochemischen Defektes entwickelt sich ein zelluläres Hirnödem, das wiederum zu Ausfallserscheinungen und später zu Drucknekrosen in der Hirnrinde führt.
Da eine Speicherung des Vitamins nicht möglich ist, muss der Bedarf laufend gedeckt werden. Mangelerscheinungen treten sonst relativ bald auf.
 

Eine klinisch und pathologisch-anatomisch kaum zu unterscheidende Erkrankung kann durch H2S-Vergiftung entstehen:

Klinische Erscheinungen:
Plötzlich einsetzende zentrale Blindheit (Pupillarreflex erhalten), Miosis, dorsomedialer Strabismus (medialer Pol des Bulbus nach dorsal rotiert - Schädigung des N. trochlearis), Nystagmus, Andrücken gegen Gegenstände, Inkoordination, Muskelzittern und -zuckungen, Leerkauen, schaumiges Speicheln, Opisthotonus ("Sternguckerkrankheit") und Streckkrämpfe der Vorderbeine (vor allem bei bereits festliegenden Tieren). Die Pansenbewegungen sind noch einige Zeit erhalten (im Gegensatz zu den Verhältnissen bei Bleivergiftung). Inkoordination und Krämpfe können durch die Einklemmung des Kleinhirns ins Forman magnum ausgelöst werden.

Mangelkrankheiten beim Menschen sind Beri-Beri nach Verzehr von ausschließlich poliertem Reis.
Sogenannte "trockene Form": Muskelschwäche, Parästhesien durch "Polyneuritis", Paresen, Übelkeit. Appetitmangel, Müdigkeit.
"Feuchte Form": Ödeme.
Wernicke-Syndrom: Bradykardie, psychische Veränderungen (Vergesslichkeit).
Korsakow-Syndrom: Verwirrtheit und Depression.

Video, 29 Sek., 4,5 MB   In der Videosequenz werden zwei Tiere gezeigt: beim ersten Tier fällt der Opisthotonus auf, beim zweiten Tier ist eine leichte Rotation des Bulbus nach medio-dorsal erkennbar (schlecht sichtbar).
 

Diagnostik:
Hinreichender Verdacht aufgrund der klinischen Erscheinungen, erhöhter Liquordruck, prompte Reaktion auf frühe "diagnostische" Therapie mit Vitamin B1 innerhalb von Stunden, Sicherung der Diagnose durch Messung der Erythrozyten-Transketolase (oder vielmehr des sogenannten TPP-Effektes: Steigerung der Transketolase-Aktivität durch Zugabe von TPP; Steigerungen um über 40 % sprechen für B1-Mangel).
In der Praxis ist die Reaktion auf die Behandlung der wichtigste diagnostische Hinweis ("diagnostische Therapie").
Die normale Thiamin-Konzentration im Plasma beträgt 75 - 185 nmol/l.

Das Gehirn zeigt bei Bestrahlung mit UV-Licht (365 nm) Fluoreszenz.
 

Differentialdiagnosen:
Bleienzephalopathie, ISTMEM, "Kochsalz"-Vergiftung, Hypovitaminose A, Listeriose, nervöse Ketose, Tetanie, Tollwut, BSE, M. Aujeszky, Hepatoenzephalopathie.
Bei Lämmern: Infektion mit Cl. perfringens Typ D
 

Therapie:
Thiamin > 10 mg/kg über mehrere Tage. Wasserlösliche Glukokortikoide in einmaliger hoher Dosierung zur Reduktion des Hirnödems. Diuretika.
Bei rechtzeitigem Einsatz der Behandlung sind die Erfolge oft spektakulär. Wenn sich dagegen sechs bis acht Stunden nach der Therapie keine Besserung zeigt, sollte die Verwertung in Betracht gezogen werden.

Die durch H2S verursachte Form spricht nicht auf die Behandlung mit Thiamn an.
 

Prophylaxe:
Behutsame Umstellung auf kraftfutterreiche Mastrationen, nach Ausbruch Supplementierung von B1 (3-10 mg/kg Futter), Gabe von Bierhefe. Bei Verfütterung von Treber kann die Zufuhr von Momensin die Bildung von H2S vermindern.
 

PubMed
 
  


Letzte Änderung: 03.10.2016


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